Der folgende Artikel wurde uns von der Autorin zugesandt und wir freuen uns, ihn hier veröffentlichen zu können:

Wenn man in Deutschland nachmittags ein zwölfjähriges Kind begrüßt, geht man davon aus, dass es gefrühstückt hat, in der Schule war, dort Mittag gegessen hat und jetzt entweder seine Hausaufgaben macht, einem Hobby nachgeht oder mit Freunden spielt. Doch für die Kinder, mit denen ich arbeite, ist keines dieser Dinge selbstverständlich. Mein Name ist Hannah Köhler, ich arbeite seit einem halben Jahr als Freiwillige in einem Kinder- und Jugendzentrum mit den Romakindern Jelšavas zusammen und dies ist ihre Geschichte.

Jelšava ist ein kleines Dorf im Herzen der Slowakei, nur bekannt für seinen hohen Bevölkerungsanteil an Roma. Von den rund 3200 Einwohnern sind etwa 1300 Roma. Diese Gegend der Slowakei ist geprägt von schlechter wirtschaftlicher Entwicklung, hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Vor langer Zeit war Jelšava eine reiche Stadt, aber von dem ehemaligen Reichtum zeugen nur noch die Kirchen und die Ruine des Kastells.
Vor mehreren Jahren hat der slowakische Staat versucht, den Anteil an Roma in Košice, der zweitgrößten Stadt der Slowakei, zu senken, indem ihnen billige Häuser in kleinen Orten angeboten wurden, unter anderem in Jelšava. Seitdem sind die Grundstückspreise hier dramatisch gesunken und die Häuser verstorbener Bewohner werden zumeist wiederum von Roma gekauft.

Der Arbeitgeber für den Großteil der Bevölkerung ist die naheliegende Magnesiummine, aber auch dort sinken die Beschäftigungszahlen und so ist Arbeitslosigkeit ein gravierendes Problem für die Einwohner Jelšavas. Besonders für die Roma der Stadt ist es sehr schwer, eine Beschäftigung zu finden, da sie bei der Arbeitsplatzsuche häufig mit offenem Rassismus konfrontiert werden. Zudem ist das Sozialsystem des slowakischen Staates so aufgebaut, dass der Mindestlohn niedriger ist als das Arbeitslosengeld. Für viele Roma würde es sich also finanziell nicht lohnen zu arbeiten. Daher leben die Mehrheit der Romafamilien hier von der Sozialhilfe.

Die Probleme der Roma gehen aber noch wesentlich tiefer. Im Bildungssystem sind sie zumeist gravierend benachteiligt. Roma werden häufig automatisch in so genannte Sonderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung verwiesen. Zudem ist auch das Bildungsniveau der Elterngeneration zumeist sehr niedrig. Dazu kommt, dass Schulbildung für die Roma hier nie einen besonders hohen Wert hatte, da das Wissen und handwerkliche Fähigkeiten traditionell in der Familie gelehrt wurde. Deswegen wird eine Schulausbildung heute zwar als wünschenswert, aber keineswegs erforderlich angesehen. Viele der Kinder, mit denen ich arbeite, schwänzen regelmäßig die Schule und werden dazu teilweise sogar von ihren Eltern angehalten, wenn ihre Hilfe zu Hause benötigt wird.

Außer den schlechten Berufschancen erfahren die jugendlichen Roma weitere Probleme. Sehr viele Romamädchen in Jelšava werden schon im Altern von 14 Jahren schwanger. Mitverantwortlich dafür ist sicherlich die zumeist mangelnde sexuelle Aufklärung, aber auch andere Faktoren.
Zudem endet die Regelschulzeit in diesem Alter. Kaum jemand aus der Romagemeinschaft schafft den Übergang zum Gymnasium im nahe gelegenen Ort Revúca. Daher fangen die Kinder in diesem Alter an, von der Sozialhilfe zu leben.

Weitere Probleme sind die hohe Rate an Alkohol- und Drogenmissbrauch und die extrem hohe Kriminalität. Die Romafamilien haben zumeist große Schwierigkeiten, finanziell vorauszuplanen, und wenn das Geld der Sozialhilfe aufgebraucht ist, fangen sie häufig aus der Not heraus an zu stehlen.

In solch einem konfliktreichen Umfeld aufzuwachsen ist sehr schwer, und die Gefahr, dass sich das Muster wiederholt, sehr hoch. Daher versuchen wir mit unserer Arbeit, dem entgegen zu wirken und den Kindern Perspektiven für ihre Zukunft aufzuzeigen.

Wir sind sechs internationale Freiwillige, die in Jelšava im Rahmen eines Europäischen Freiwilligendienstes arbeiten. Das ist ein Programm, das von der EU gefördert wird und jungen Menschen zwischen 18 und 30 die Möglichkeit bietet, für kurze Zeit oder ein ganzes Jahr in ein anderes europäisches Land zu gehen und dort für die lokale Gemeinschaft zu arbeiten.
Mein Team besteht aus Freiwilligen aus Italien, Deutschland, Spanien, Portugal und Rumänien. Wir leben und arbeiten ein Jahr lang gemeinsam in Jelšava.

Unser Sozialzentrum „Jordán“ öffnet jeden Tag seine Tore und bietet verschiedene Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 29 an. Wir basteln, tanzen, singen, musizieren, spielen Theater, und lernen gemeinsam. Für die Jugendlichen bieten wir jeden Freitagabend einen Treffpunkt an, wo sie billig Snacks und alkoholfreie Getränke kaufen und ihre Zeit mit Brettspielen und Tischtennis verbringen können. Zudem sind immer Freiwillige anwesend, die für ihre Fragen und Probleme ein offenes Ohr haben. Auf diese Weise hoffen wir, die Jugendlichen von den Bars fern zu halten, in denen viele Slowaken ihren Freitagabend verbringen.

Ein weiteres Projekt unseres Zentrums ist ein Präventionsangebot, das über mehrere Monate läuft und Themen wie Freundschaft, Beziehungen und Drogenmissbrauch thematisiert. Es wird von einer ausgebildeten Sozialarbeiterin geleitet und hat das Ziel, die Kinder durch gemeinsame Diskussionen, Rollenspiele und einen spielerischen Lernansatz für diese Themen zu sensibilisieren.
Auch im wöchentlichen Club für Mädchen wird über gesellschaftliche Umgangsformen und Lebenskonzepte diskutiert. Die Philosophie des Zentrums ist es, dabei nie zu belehren, sondern Anregungen zu geben und ein offenes Ohr zu haben. Den Kindern wird beigebracht, die Konsequenzen ihres Handelns nachzuvollziehen und sich auch in die Rolle des anderen zu versetzen. Was sie dann mit diesen Techniken anfangen, ist ihnen überlassen.

Das grundlegende Ziel des Zentrums ist, den Kindern einen sicheren und vorurteilsfreien Ort zu bieten, um ihre Freizeit zu verbringen, weit weg von den Problemen der Straße. Dabei möchten wir ihnen auch gleichzeitig einige grundlegende gesellschaftliche Werte vermitteln, wie Verantwortung für das eigene Handeln, Mitgefühl und Zusammenarbeit.

Unser Zentrum bietet täglich von 14:30 bis ca. 18:30 Aktivitäten an. Manche betreffen spezifische Projekte, die wir mit den Kindern durchführen wollen, wie das Basteln von Weihnachtsdekorationen. Andere bieten den Kindern die Möglichkeit, sich auszusuchen, was sie machen möchten. Das Wichtigste ist nur, dass sie die Regeln des Zentrums respektieren. Diese Regeln wurden gemeinsam mit den Kindern aufgestellt und bieten die Grundlage für eine friedliche, respektvolle Atmosphäre. Zudem bereiten sie die Kinder auf ihr Leben in der Gesellschaft vor, da es die Grundlagen der Höflichkeit sind, wie z.B. einander nicht zu beleidigen, einander zu helfen und höflich miteinander umzugehen.
Wer die Regeln bricht, muss sich dafür verantworten und im Extremfall das Zentrum für den Rest des Tages verlassen. Viele der Kinder mögen die Regeln sehr, da sie ihnen eine Sicherheit bieten, die sie sonst nicht gewohnt sind.

Schließlich unterstützt das Zentrum auch junge Erwachsene, die aus den meisten der Aktivitäten des Zentrums herausgewachsen sind. Sie bekommen die Möglichkeit, sich als lokale Freiwillige ausbilden zu lassen und erhalten Unterstützung in ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einem Job. Einige von ihnen bekommen sogar die Möglichkeit, selbst für ein Jahr ins Ausland zu gehen.

Nach Jelšava zu kommen, hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Ich habe erkannt, wie privilegiert mein Leben in Deutschland ist, und ich habe gesehen, wie Menschen, die fast nichts haben, dennoch glücklich sein können. Viele der Familien hier denken nicht, dass sie Hilfe nötig haben oder etwas an ihrem Lebensstil ändern können. Gerade für Kinder aus Haushalten, in denen ein hohes Gewaltpotenzial herrscht, ist das sehr schlecht. Aber es zeugt auch von einer unglaublichen Widerstandskraft des menschlichen Geistes, die mich immer wieder beeindruckt.

In Bezug auf die Mehrheitsbevölkerung ist es für mich auch immer wieder unverständlich, auf wieviel Ignoranz man stößt, wenn man ihnen von unserer Arbeit erzählt. Viele stempeln die Roma einfach als faul und kriminell ab, ohne die zu Grunde liegenden Schwierigkeiten in Betracht zu ziehen und zu differenzieren. Gerade die Kinder müssen stark unter diesen Vorurteilen leiden, und viele von ihnen verinnerlichen die Vorwürfe und verhalten sich dementsprechend. Auf diese Weise wird ein Teufelskreis aufgebaut, den wir zu durchbrechen versuchen.

Jeder Arbeitstag bietet unvorhergesehene Momente – positive und negative. Was die Kinder aus Jelšava von den Kindern unterscheidet, mit denen ich bisher gearbeitet habe, ist ihre Offenheit Neuem gegenüber. Fremde werden von ihnen fast immer mit offenen Armen empfangen und die Kinder haben keinerlei Probleme damit, ihre Zuneigung zu zeigen, wenn sie einmal gewonnen ist.

Dennoch kann man in der Arbeit mit den Kindern immer wieder erkennen, dass sie mit tief liegenden Problemen zu kämpfen haben. Viele haben Probleme, mit negativen Gefühlen umzugehen und die meisten haben ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Dazu kommt ein großes Unverständnis gegenüber Regeln und Konsequenzen des eigenen Handelns.

Doch schon Einzelerfolge machen den Aufwand lohnend, z.B. wenn ein Kind den Wunsch hegt, später zu studieren oder wenn ein lokaler Freiwilliger ein Auslandsjahr beginnt. Wir hoffen, dass wir den Kindern in der schwierigen Phase des Aufwachsens und dem problematischen Umfeld eine Stütze sein können. Unsere Vision ist ein Jelšava, in dem alle Kinder in Frieden, gut versorgt und mit guten Chancen für die Zukunft aufwachsen. Dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist, steht außer Frage. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf und geben jeden Tag unser Bestes für die Kinder.

„Jordán“ ist immer dankbar für Unterstützung. Für mehr Informationen über unser Projekt besuchen Sie bitte:
Facebook: YMCA Revúca