ein Beitrag von:  Doku+    Recherchegruppe abgeschobene Roma 

Seit mehr als 10 Jahren treffen wir uns mit (abgeschobenen) Roma in Serbien. Im Laufe der Zeit haben wir mit vielen Angehörigen der Minderheit biografische Gespräche geführt. Wir arbeiten in Deutschland und den exjugoslawischen Staaten mit Journalist:innen, Menschenrechtler:innen, Ärzt:innen und Rechtsanwält:innen in einem Langzeit-Rechercheprojekt, welches Recherchen von Journalist:innen, Anwält:innen und Ärzt:innen zu Lebensbedingungen von Roma zusammenfasst. Im Rahmen dessen waren wir zuletzt mehrfach in Serbien, 2023 vier Mal, jedes Mal auch in Niš.

Neonaziszene in Niš

Im Rahmen dieser Arbeit waren wir seit 2013 mehrfach in Niš. Eine Stadt in Südserbien, nahe der Grenze zu Bulgarien/Mazedonien. Dort besuchten wir eine Organisation namens Ženski Prostor. Eine serbienweit vernetzte Frauenorganisation, mit Schwerpunkt auf der Unterstützung der lokalen Roma-Community. Ihr Büro war von außen nicht erkennbar. Weder ein Schild, auch kein Name an der Klingel. Das sei zur Tarnung, sagten sie, wegen der starken Neonaziszene in der Stadt. Sie berichteten uns von der sehr organisierten Neonazi-Szene in Niš; und von dem Kleinkrieg, der sich in der Stadt abspielte. Bei unseren Aufenthalten dominierten die Graffitis der Neonazi-Szene – über andere Slogans gesprüht.

Serbien ist laut Asylgesetz ein Sicherer Herkunftsstaat

Alle wissen, für Roma gibt es in Serbien keine Sicherheit. Beobachter:innen der Szene sagen, Serbien bekämpfe nicht die Armut, sondern die Armen. Noch schlechter als den serbischen Roma geht es den Roma, die 1999 aufgrund von Krieg und Vertreibung aus dem Kosovo geflohen sind. So auch Kastrat Brijani. Wir kennen Kastrat Brijani seit 10 Jahren, haben seine Versuche in Serbien Fuß zu fassen und sich vom rassistischer und sozialer Ausgrenzung nicht klein machen zu lassen begleitet. Er wollte Journalist werden, der Krieg unterbrach seine Ausbildung. Heute ist die Musik sein Spachrohr. Sein letztes Album hieß „Kastro against White Supremacy“. Als Künstler hat er sich mutig und entschieden geäußert – und wurde dafür angegriffen. Von Neonazis und Patrioten – unter anderem von serbischen Polizisten, die ihn bedrohten. Er ist aus der totalen Bedrängung nach Deutschland geflohen und er kann nicht zurück. Um seine Familie zu schützen, musste er in sein Geburtsland Deutschland zurückkehren. Wir haben Familie Brijani in den letzten Jahren mehrfach in Nis, im Süden Serbiens getroffen. Als Aktivist half die Familie uns mit Abgeschobenen aus Deutschland. Ihr ist zum Beispiel zu verdanken, dass eine junge alleinerziehende Romni, nach der Abschiebung in absoluter Isolation gelandet, die den Mut verloren hatte: heute nicht tablettenabhängig ist und sich nicht umgebracht hat.

Situation in Niš (Südserbien)

Es gibt ein Sprichwort in Serbien, es lautet sinngemäß »je südlicher, je trauriger«. Niš ist eine ehemalige Industriestadt, geografisch günstig gelegen. Die Deutsche Wehrmacht hatte es besetzt und mitten im Zentrum ein Konzentrationslager betrieben, das ist heute ein Museum.* Kastrat Brijani wohnte in direkter Nähe zu diesem Lager (welches heute eine Gedenkstätte ist), in einem der infrastrukturell unbeachteten Roma-Stadtteile von Niš. Hier ist die Armut groß und partriachale Gewalt und Neonazi-Aktivitäten sind bedrohlich. Wir waren zuletzt im Dezember 2023 vor Ort, zu den Kommunalwahlen. Viele Roma berichteten uns, dass und wie Stimmen für die Regierung gegen ein Paket Zucker oder Mehl oder verfrüht ausge-zahlte Sozialhilfe gekauft werden. Die Sozialhilfe ist zu gering für einen Lebensunterhalt, sie beläuft sich auf 80 Euro an 9 von 12 Monaten im Jahr. Der Strom wird immer wieder für ein Stunden oder mehrere Stunden abgeschaltet. Kastrat Brijanis Familie hat aufgrund des Flüchtlingsstatus (aus dem Kosovo) nicht die Familienstrukturen, die vor Ort sich gegenseitig das Leben sichern. Im politischen System und im dortigen NGO-Sektor hat er keine Chance. Seine letzten Aufträge kamen aus Deutschland.

Kastrat Brijani ist Nachkomme von Opfern des Nationalsozialismus

Kastrat Brijani haben wir während eines Besuches in Niš zur Familiengeschichte unter deutscher Besatzung während des Nationalsozialismus befragt, da dies zu unseren Rechercheschwerpunkten passt. Dabei fanden wir heraus, dass Kastrat Brijanis Großvater als Überlebender vom US-amerikanischen Filmemacher Paul Polanski interviewt wurde, die Aufnahmen befinden sind auf der Seite vom United States Holocaust Memorial Museum, Washington online zu sehen, Kopien davon haben wir. Wir denken, dass die Familie von Kastrat Brijani als Roma, persönlich betroffen von rassistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt, seitens staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, sowie als Enkel von NS-Überlebenden ist und als Angehörige der vulnerablen Minderheit in Deutschland geschützt werden müssen. Sie waren und sind rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, die von Mobbing in Schul- und Arbeitskontexten, verbalen Angriffen auf der Straße bis hin zu schwerer körperlicher und psychischer Gewalt reichte. Die wenigen Forschungsarbeiten zum Thema sind sich einig, dass in den Opferperspektiven die NS-Verfolgungsgeschichten von Roma in zweiter und dritter Generation ernst zu nehmende Folgen mit sich ziehen. Kastrat hat Schwierigkeiten. Die ganze Situation belasten ihn stärker, als er zugibt – er ist gestresst, fühlt sich schuldig, denkt, er müsse alles schaffen. Wir empfehlen ihn zum Arzt zu schicken und abchecken zu lassen, ob eine PTBS oder ähnliches vorliegt. Als Angehöriger der Opfergruppe Roma und Sinti im exjugoslawischen Staat Serbien den Schikanen von Neonazis ausgesetzt zu sein – das ist weder Kastrat Brijani noch sonst irgendjemandem zu wünschen. Hier in Deutschland kann Kastrat Brijani sich und seiner Familie eine Perspektive aufbauen, hier kann er Schutz bekommen. Seine Fluchtgründe sind politische.

Für Nachfragen stehen wir gerne zur Verfügung.

Doku+ Recherchegruppe abgeschobene Roma

Kontakt: dokuplus.org email hidden; JavaScript is required 

* Das Konzentrationslager Crveni Krst in Niš In der südserbischen Stadt Niš ruft ein Museum am historischen Ort das Konzentrationslager Crveni Krst in Erinnerung, das zwischen 1941 und 1944 bestand. Auf der ehemaligen Hinrichtungsstätte des Lagers, dem nahegelegenen Hügel Bubanj, befindet sich seit 1963 ein Gedenkpark. Er wird von einem monumentalen Denkmal beherrscht … Deutsche Truppen besetzten Serbien im April 1941. Noch im Herbst richteten die deutschen Besatzer ein Lager im Stadtteil Crveni Krst (deutsch: Rotes Kreuz) auf dem Gelände eines 1930 erbauten Militärdepots ein. Im Lager von Niš wurden Kriegsgefangene, Juden, Roma, Geiseln und Partisanen inhaftiert. … aus www.memorialmuseums.org/staettens/druck/1302